12 Months x 12

ZINES

 

05/12: THE SILENCE OF

THINGS

Drawings & Text: Xiyu Tomorrow

A limited edition Original Zine / Artist Book
(20 EUR + 5 EUR Shipping) is available. Please email: hi@xiyutomorrow.com

Thank you:
Arj & Anne
F.

Print:
RISOFORT

Custom Box:
Nekokaburi GBR

12 Months x 12 Zines is
kindly supported by:
Claussen-Simon-Stiftung

German orignal text, feel free to copy and translate, e.g. via deepl.com

Das Schweigen der Dinge.

Ich bin verliebt.
Verschossen.
Verknallt.

Ein kommerziell hergestelltes, maschinell verarbeitetes, am Fließband verpacktes, unterbezahlt produziertes, industriell normgemaßgeregeltes, weltweit existierendes, sich in einem Spinnennetz ausbreitendes Produkt hat es mir angetan. Bald ist es mein.

Artikelnummer 0600180001001, Made in China, tritt am Mittwoch, 24. April 2019 um 14:53 (UTC1) die Reise in meine kahle Wohnung an. Meine Freundin S A L E schenkt mir 2 EUR Rabatt. Wozu Geld verdienen, wenn nicht für ein wenig Lebensqualität?

Vielleicht liebe ich diese Tasse deswegen so heiß, weil sie, oder genauer gesagt, er, all die Dinge in sich vereint, die ich meine nicht zu haben.

Sexiness.
Sinnlichkeit. (Eleganz)
Courage.

All die Dinge, die ich nicht glaube zu sein. Schwupps, hoppla, sodele, mit einem Klick doch mein.

Zwei Jahre lang darf niemand außer mir aus dieser Tasse trinken. Bis zu dem Tag, an dem mich J. besucht. Einen Moment lang nicht aufgepasst und schwupps.

Ich denke an das Teeservice meiner Großmutter. Ruhig und erhaben, in Plastikfolie eingeschweißt, sitzt es auf dem Wohnzimmertresen und wartet darauf, mit sinnlichen Freuden zu berühren. Als ich China das erste Mal mit kritischem Blick besuche, staune ich. Regenbogenverglaste Fenster. Verflieste Häuser. Türmchen, wo sonst Dächer wären. Ein bisschen Sissi für alle. Europäische Märchenwelt für das höriggemachte, hörige Volk

Ich denke an Geschenke, die wir unseren Verwandten machen:

  1. Milka-Schokoladenherzen
  2. Vaseline-Handcreme
  3. Swarovski-Halsketten
  4. Wilde Pilze

Ich denke auch an Geschenke, die Verwandte uns machten.

  1. Perlenhandtaschen
  2. Schlagobers
  3. Hasenpelzkragenjacken
  4. Porzellankätzchen

Die Kosten des Wiedersehens (Stand 2019):
854 EUR Flugticket
30 Stunden An- und Abreise
8536 km (Luftlinie)
76 EUR Visa-Antragskosten
2 Stempel
1 ausgefülltes Antragsformular
1 Passfoto

Ergänzungen (Stand 2021):
2486 EUR Flugticket
14 Tage Quarantäne
3 PCR-Tests
1 Gesundheitszertifikat
1 Wohnsitznachweis in China

Ich denke an die Leere, die mich in China immer wieder befällt. Essen. Shoppen. Ablenken. Was gibt dem Leben Sinn?

Ich besuche meine Großeltern. Wie hat sich die Sinnfrage für sie gestellt? Fünf Kinder auf die Welt und durch die Zeit bringen, die Landverschickung mitmachen und wieder retour machen, dem Hunger ein Schnippchen jagen, ein Regime zu Grabe tragen, ein neues mit aufbauen. Früher wusste ich nichts über sie. Wie sie heißen oder was sie getan haben. Heute weiß ich mehr als nichts und doch nicht viel. Ich weiß: Dass sie Fisch gekauft und gekocht haben, in den Tagen, wo sie auch für mich Großeltern sein konnten. Dass ich lange nicht wusste, wie sie heißen, außer diadia (Opa) und nainai (Oma). Dass die Namen der Vorfahren Geheimnisse sind und nichts, wofür man ausgelacht werden sollte. Dass diadia und nainai alt und krank sind. Dass ich bald Dessert-Essen gehen möchte (Mango mit Sago und Vanillesoße bei Honeymoon Dessert). Ich weiß auch, dass Sago aus dem Mark der Sagopalme gewonnen wurde, dessen botanischer Name Metroxylon rumphii sich vom Hessen Georg Eberhard Rumpf (1628–1702) herleitet. Rumpf, der als Kolonialbeamter für die Niederländer arbeitete und Metroxylon erstmals nach botanischen Standards darstellte, obwohl schon Zhao Rukuo im 12. Jahrhundert der Sagopalme Vorzüge beschrieb. Rumpf, der für dieselben Niederländer arbeitete, die die orangenfarbige Karotte erfanden: als Symbol für nationale (sprich: überterritoriale) Einigkeit und als Hommage an Wilhelm von Oranje.

Wilhelm der Schweigsame.

Schweigen tun auch wir, meine Großeltern und ich. Also ist es Zeit für Dessert.

Zum Abschied sagen wir im Chinesischen: Zaijian. Wir sehen uns wieder. In meiner Familie sagen wir: Zaihui. Das heißt so viel wie: Das, was zusammengehört, werden wir zusammenführen. Wir werden wieder zusammen sein. Es ist ein Versprechen, allzu oft ein leeres.

Ich verabschiede mich von Großvater. Zaihui diadia. Ich verabschiede mich von Großmutter. Zaihui nainai. Beim Sagen dieser Worte weiß niemand, dass es keinen Abschied geben wird, außer diesem.

Ich gehe aus der Tür. Ich sehe andere nainais und diadias. Ich esse Mango mit Sago. Ich fliege davon, hinein in mein kleines, sinnerfülltes oder sinnentleertes Leben, zu meiner Tasse und zu
S A L E. Wir werden uns wiedersehen. Zaihui, Zaihui.